Eros. Das war einmal ein Gott. So jedenfalls schildert es Phaidros:
„Zuerst also habe Phaidros den Anfang seiner Rede von daher genommen, dass Eros ein großer Gott sei und bewundernswürdig Menschen und Göttern, …“ (Plato: Symposion. 178a)
Von dieser Divinität ist nicht viel übriggeblieben. Die Gabe des Eros, die Erotik, ist zur Ware herabgesunken, die Händler auf Messen verkaufen. Es war wohl auch nur eine Frage der Zeit, bis die Wirkung der christlich-platonischen Lustfeindlichkeit zu diesem Ergebnis führen musste. Jede Lust, so schreibt Plato an anderer Stelle im Phaidon, sei ja doch nur ein „Nagel, durch den sie die Seele am sterblichen Körper annagelt und anheftet“ (Phaidon. 83d). Ein Bild des Eros, das Augustinus weiter abwertet, wenn er sich in seinen Bekenntnissen selbst geißelt, er habe in seinem Leben den „Glanz der Freundschaft“ mit dem „Schmutz niederer Begehrlichkeit“ verunreinigt und mit der „abgründigen Finsternis der Wollust“ verdunkelt. (Augustinus. 69).
Beide Denker tragen maßgeblich dazu bei, eine Vorstellung zu etablieren, die sich bis heute hält: dass sich nämlich die Liebe teilen lässt in Agape, Philia und Eros. Agape, die reine und himmlische Liebe verwirklicht sich in der Hingabe an Gott. Philia, die freundschaftliche und irdische Liebe, schafft Beziehung unter den Menschen, verbunden mit Begriffen wie Treue und Ehre. Für die erotische Liebe bleibt dann leider nur noch der Platz einen Stock tiefer: manche nennen es Hölle. Wenn Eros dort auf Trauma trifft, wirkt er fortan toxisch, und es wird beinahe unmöglich, die beiden aus diesem Verlies zu holen.
Eros. Das war einmal der Name für eine göttliche, allgegenwärtige Anziehungskraft und Liebeslust. Die Kraft, die uns zusammenhält, die Kraft, die Menschen in körperlicher Liebe vereint.
Diese Liebe wurde ideengeschichtlich nicht nur entwürdigt und verkauft, sie ist in jüngster Zeit zusätzlich überschüttet worden mit Zuschreibungen aller Art. Es ist wahnsinnig kompliziert geworden, über Eros im positiven Sinn zu sprechen. Ein Berg an Konventionen, Projektionen, Kollateralschäden, Überforderungen, Befürchtungen, traumatischen Erfahrungen, politischen Überzeugungen, Rücksichten, Vorsichten und Tabus lasten auf ihm. Wer außerhalb einer festen und intimen Beziehung erotischen Bedarf äußert, hat massiven Erklärungsnotstand.
Das alles wäre halb so schlimm, gäbe es da nicht ein kleines Problem: Der Wunsch nach Berührung ist ein menschliches Grundbedürfnis. Unberührte sterben. Matin Grunwald hat versucht, die hohe Bedeutung der Berührung für die seelische Gesundheit wieder in Erinnerung zu rufen:
„Kindliches Wachstum und psychische Stabilität sind ebenso abhängig von ausreichender Körperberührung wie das gute Miteinander von Liebes- und Lebenspartnern.“ (Grunwald. 10)
Körperliche Berührung ist Kern des Eros, steht damit aber im starken Kontrast zur Unmöglichkeit sich diese einfach verschaffen zu können. Diese klaffende Differenz könnte durchaus die Erklärung sein für unzählige psychische Folgeprobleme, die Menschen in die Psychotherapie führt: das Trauma der Unberührten ebenso wie das Trauma der Missbrauchten.
Außerhalb therapeutischer Praxen haben wir als Gesellschaft zwei Wege gefunden, um den Wunsch nach Berührung gleichzeitig auszuleben und zu kontrollieren. Am einen Ende steht die rote Laterne der allzeit bereiten Erotikindustrie, die zwar auch keine göttliche Berührung bietet, dafür zumindest die körperliche Lust verfügbar erscheinen lässt. Am anderen Ende bestimmt ein enges Korsett an Normen sehr genau darüber, wer wen wie und unter welchen Umständen berühren darf. Ein Dialog über die Sinnhaftigkeit der „schmutzigen“ Pornographie einerseits und den „sauberen“ Konventionen andererseits findet kaum statt, und wenn, dann bekommt er seine Richtung nicht aus dem Anspruch der Freude an der erotischen Berührung, sondern mit dem Ziel der Verhinderung von Missbrauch. Es herrscht zunehmend eine Atmosphäre des Misstrauens und der Angst. In dieser Atmosphäre bleibt kein Platz für einen positiven Zugang zur Erotik. Weil es ohne erotische Berührung aber nicht geht, fristet Eros aktuell sein Dasein in einer Art unausgesprochener Verbannung an den Rändern der Gesellschaft. Wir erleben aktuell den Aufschwung spirituell orientierter Berührungspraktiken, wo in den Schutzräumen der Tantra-Seminare gelebt werden kann, was sonst nicht sein darf.
Diese Entwicklung lässt sich mit Blick auf die Historie gut verstehen. Was unser Bild der körperlichen Liebe betrifft sind wir – so scheint es - im frühen Mittelalter stecken geblieben. Noch immer unterscheiden wir die hohe Minne, die das DU überhöht und unerreichbar vergöttlicht, von der niederen Minne, die das DU zum Objekt meiner Begierden macht. In beiden Fällen geht das Wesentliche verloren: das konkrete ICH und DU. Man könnte sagen, der Schutzraum des westlichen „Tantrismus“ verfolgt letztlich das gleiche Ziel wie der alltägliche „Tinderismus“: Flucht vor dem Ich und Du, vor der eigentlich erotischen Begegnung. Das klingt zunächst paradox, weil Begegnung ja angeblich das Ziel dieser Angebote sein soll.
Für ein existenzielles Verständnis des Eros und einer damit verbundenen Heilung von Trauma ist dies alles wenig hilfreich. Vielmehr müssen wir versuchen, Skylla und Charybdis zu umschiffen und es schaffen, Erotik weder abzuwerten als pure Befriedigung noch sie zu überhöhen auf der Suche nach spiritueller Erleuchtung. Das ist schwierig, weil es für diese beiden Formen der Erotik eine Masse an Bildern, Metaphern und Angeboten gibt. Wir haben Sprache für diesen Umgang mit dem Eros, weil wir seit den Tagen Platos gewohnt sind in diesen Kategorien zu denken. Für die existenzielle Erotik hingegen gibt es keinen Mainstream, kaum Geschichten, Bilder oder Worte. Das macht es schwierig über den Eros zu sprechen, ohne nicht sofort wieder in die Abwertung oder die Überhöhung abzugleiten.
Die Philosophie der Liebe unterscheidet - wie gesagt - seit dem Altertum zwischen Eros als körperlicher Liebe, Philia als freundschaftliche Liebe und Agape als göttlicher Liebe. In diesem Dreiecksverhältnis wurde der Körper herabgewürdigt als minderwertigste Form der Liebe und nur wer sich über die „Niederungen der sexuellen Lust“ erhebt, beweist „wahre Liebe“.
Ich halte dieses Bild von Grund auf für falsch und für die Ursache von Traumatisierung und Missbrauch. Was tatsächlich notwendig wäre, ist eine Rehabilitation des leiblichen Eros, eine Würdigung des Körpers, eine (Wieder-) Gewinnung vom Sinn der Sinnlichkeit.
Auf dem Weg zu diesem existenziellen Verständnis der Erotik sollten wir das althergebrachte Dreieck der Liebe auf die Spitze stellen. Was, wenn wir die „wahre Liebe“ dem Eros zusprechen? Was, wenn die rechtverstandene Liebe Eros, Philia und Agape untrennbar vereint?
Wenn wir die sexuelle Begegnung als höchste Form der existenziellen und dialogischen Berührung verstehen, dann nimmt Eros die beiden anderen Liebesformen in sich auf. Existenzielle Erotik verwirklicht Eros, Philia und Agape zugleich und holt dadurch das Trauma aus seinem Verlies. In diesem Verständnis von Erotik verwirklicht sich, was Martin Buber versucht hat als das wahrhaft dialogische Moment zu fassen: das Grundwort ICH-DU. In der existenziellen Intimität könnte sich also ereignen, was Buber als das Moment der Begegnung beschrieben hat:
„Stehe ich einem Menschen als meinem Du gegenüber, spreche das Grundwort Ich-Du zu ihm, ist er kein Ding unter Dingen und nicht aus Dingen bestehend. Nicht Er oder Sie ist er, von andern Er und Sie begrenzt, im Weltnetz aus Raum und Zeit eingetragener Punkt; .... Sondern nachbarnlos und fugenlos ist er Du und füllt den Himmelskreis.“ (Buber. 12)
„Der Zweck der Beziehung ist ihr eigenes Wesen, das ist: die Berührung des Du. Denn durch die Berührung des Du rührt ein Hauch des ewigen Lebens an uns.“ (Buber. 65)
Existenzielle Erotik ist rückhaltlose Begegnung in der Intimität. Damit diese Begegnung gewagt werden kann, müssen wir Eros aus dem Keller holen und Agape aus der Kirche. Im Schlafzimmer verbinden wir dann beide mit Philia.
Philia schafft eine Verbundenheit, die in der Lage ist, den lustvoll erlebten Anderen auch im fahlen Licht des Alltags wohlwollend zu sehen und zu fördern. Die Verbindung von Eros und Philia ist aber nur möglich, wenn diese Verbindung selbst als Agape verstanden und gelebt wird. In einer Welt ohne Gott ist die erotisch-freundschaftliche Berührung die höchste Gabe; die nicht weiter erklärbare höchste Form der Liebe, die „heilig“ ist, weil sie den anderen als anderen erkennt und nicht nur der eigenen Lust dient.
Es braucht viel Mut für diese Rückhaltlosigkeit in der Begegnung, und darin liegt wohl auch die Erklärung für die Abwertung oder Überhöhung der Erotik. In diesem Mut liegt auch die Verbindung von Eros zum Trauma, denn nie sind wir so verletzbar wie in der Intimität. Angst vor Beschämung oder Missbrauch hält den Menschen in den Schutzräumen der Normorientierung. Diese Kontrolle verhindert, mit der eigenen Verletzlichkeit in Berührung zu kommen, es verhindert das Trauma der missbräuchlichen Berührung. Das ist ohne Zweifel notwendig und sinnvoll, um einigermaßen unversehrt durchs Leben zu kommen, aber es sollte uns nicht glauben lassen, das wäre alles, was möglich ist.
Es gibt auch eine Form der Erotik, die im Anschluss an Buber existenziell-dialogisch ist. Ihr wesentliches Kriterium ist, dass es in ihr um den Anderen als Anderen geht, nicht um die Lust der Lust willen oder um Selbstvervollkommnung in spiritueller Praxis. In diesem Punkt unterscheidet sich existenzielle Erotik von der pragmatischen oder spirituellen. In der existenziellen Begegnung lasse ich mich vom anderen berühren, setze mich ihm aus und wage es erkannt zu werden. Es liegt Erkenntnis in der existenziell intimen Berührung. „Sex ist heilig“, hat es eine Besucherin meiner Praxis einmal genannt. Damit war kein religiöses Bekenntnis gemeint, sondern eine Haltung, die Lévinas in „Die Spur des Anderen“ sehr deutlich ausspricht: er nennt es Güte. Ein Geben ohne Forderungen oder Erwartungen. Lévinas spricht von nicht-konfessioneller „Liturgie“, einem Liebesdienst, der „Bewegung zum Anderen ohne Rückkehr“ ist (Lévinas. 217). Es ist dieses „sich Aussetzen“, das prinzipiell immer möglich ist, aber in der existenziellen Intimität seine stärkste Ausprägung erreicht, durch das wir einander erkennen und erschaffen. Existenzielle Intimität ist Berührung am Ort des tiefsten Schmerzes, am Trauma der Vereinzelung. Existenzielle Intimität kann heilende Wirkung entfalten, weil es eine Begegnung ist, in der wir einander „im Innersten“ wie „im Äußersten“ berühren. Diese rückhaltlose Annahme kann Selbstannahme bewirken. Was es dafür braucht, ist in jedem Fall tiefste Achtung vor dem Anderssein des Anderen und den Mut zu seiner Unverfügbarkeit. Darin liegt das eigentlich existenziell-erotische Element.
In der existenziellen Erotik steht der andere nicht zu meiner Verfügung, wir flüchten nicht in Rituale oder Praktiken, sondern wagen es, einander als DU wahrzunehmen und anzunehmen. Der andere ist mir DU, und er ist ganz DU. Nur durch die Anerkennung dieser absoluten Grenze und das durchgängige Bewusstsein dieser Grenze wird der Akt der Berührung zu diesem besonderen Ausnahmemoment, der der Liebe Tiefe gibt. Eros behält das Element der Lust, ohne sie jedoch verfügbar zu machen, weder in der Abwertung noch in der Überhöhung.
Auf dem Weg zu dieser existenziellen Liebe ist Erkenntnis, Annahme und Transformation der eigenen traumatischen Biographie unumgänglich. In der traumagesteuerten Erotik geht es zunächst und zumeist um die Lust an sich oder um die Vermeidung von Missbrauch. Der Andere bleibt Mittel zum Zweck oder potenziell übergriffig. Wer das eigene Trauma nicht erlöst hat, wird nur damit beschäftigt sein, die eigene Verletzlichkeit zu schützen. Die existenzielle Erfahrung der Berührung bleibt unerreichbar, unabhängig davon wie intensiv die Gefühle sein mögen, die eine sexuelle oder erotische Erfahrung auslöst. Auch existenzielle Freundschaft bleibt unerreichbar, weil die existenzielle Philia aus der Erkenntnis des eigenen Traumas und der Verbindung zur traumatischen Verletzlichkeit des Gegenübers entspringt.
Wer sich auf den Weg machen will zur existenziellen Berührung, wird diesen Weg ganz unten beginnen müssen, bei der Auseinandersetzung mit der eigenen Traumatisierung. Trauma wird auf diesem Weg dann kein Makel, sondern die Eintrittskarte sein, die haltlose Basis, um sich auf Ebene der bewusst-sterblichen Verletzbarkeit überhaupt begegnen zu können. Nur wenn mir mein eigenes Trauma bewusst ist, kann ich es im anderen erkennen und lieben. Was dann kommt, ist zugleich das Schwierigste und doch das Schönste: Berührung am Ort des Traumas.
Es gibt, wie gesagt, kaum Mainstream Bilder anhand derer ich das Gesagte verdeutlichen könnte. Zwei bekanntere Filme kann ich zum Abschluss aber noch nennen. Da ist zum einen „Meine Stunden mit Leo“. Ein außergewöhnlicher Film, der zeigt, dass es nie zu spät ist, Eros aus dem Keller der „niederen Wollust“ zu holen, traditionelle Konventionen über Bord zu werfen und Berührung zu wagen. Zum anderen ist da noch das wunderbare „Lost in Translation“, das zeigt, dass existenzielle Begegnung und Berührung, dass Intimität als Agape nicht auf einen sexuellen Akt angewiesen ist.

Literatur:
Augustinus: Confessiones.
Buber, Martin: Das dialogische Prinzip. Lambert Schneider. 19978.
Grunwald, Martin: Homo Hapticus. Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können. Droemer. 2017.
Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Alber. 20126.
Plato: Symposion. Phaidon. Übersetzung von F. Schleiermacher.
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