Wer im Duden oder auf Wikipedia recherchiert, erfährt, dass unter „Ekstase“ üblicherweise tranceartige Zustände verstanden werden, die je nach Weltbild entweder dem spirituellen oder dem halluzinatorischen zugerechnet werden. Einigkeit herrscht in diesem Verständnis von Ekstase darin, dass es sich um Bewusstseinszustände handelt, in denen wir außer uns sind oder wie im Rausch.
Der existenzielle Ekstase Begriff ist von dieser Vorstellung weit entfernt. Ekstase bedeutet hier: Existenzerfahrung.
Existenzerfahrungen sind Momente, in denen ich besonders intensiv „Ich“ bin, oder genauer: Erfahrungen, die überhaupt erst bestimmen, wer oder was dieses „Ich“ ist. Ekstasen sind Momente, die mein Selbst formen. Ekstasen sind Augenblicke, in denen Ich „Ich“ bin und „Ich“ zu sein habe. In diesem Sinn meint Ekstase das Gegenteil von Trance oder Rausch; Ekstase meint die Erfahrung einer Ausgesetztheit, in der wir auf uns selbst zurückgeworfen werden.
Ekstatisch in diesem Sinn sind alle Erfahrungen, die aus dem alltäglichen Fluss des Lebens herausstehen, die uns aus dem Selbstverständlichen heraus-reißen. Etymologisch ist diese Erfahrung des Transzendierens im Begriff der Ekstase angelegt: Die Ek-stase im ursprünglichen Sinn bedeutet: Heraus-stehen. Diese Ek-stase steckt auch im Begriff der Ek-sistenz. Existenzphilosophie könnte also auch Philosophie der Ekstase verstanden werden. Aber wer oder was steht denn nun wo heraus?
Im Titelbild zu diesem Text sehen wir einen Menschen, der durch den Sternenhimmel auf das Rätsel dahinter blickt; über die bekannte Welt hinaus in eine unbekannte Welt. Dieses Bild ist als Metapher eine passende Verbildlichung der ekstatischen Erfahrung. In den Augenblicken, die ich als ek-statisch charakterisieren will, blicken wir - wie der Mensch auf dem Bild - hinter oder über die bekannte Welt des Alltags hinaus. Was sich dadurch eröffnet ist ein Blick darauf, was es heißt „Mensch“ zu sein: Halt zu finden vor dem Hintergrund der Haltlosigkeit. In der Ekstase realisieren wir uns – nicht als dieser oder jener Mensch, sondern als Mensch.
Wie geht das? Welcher Art sind die Ekstasen, die uns das Menschsein bewusst machen? Es sind nicht die Meilensteine, die wir im Jobinterview aufzählen, sondern eher die Momente, die wir in einem Liebesbrief oder einem Abschiedsbrief teilen.
Es sind die Momente, in denen wir Schmerz oder Schönheit erfahren, vielleicht nur für einen einzigen Augenblick; Momente, die sich vielleicht sogar der Möglichkeit der Mitteilung überhaupt entziehen.
Um die existenzielle Bedeutung der Ekstase weiter zu verdeutlichen, muss ich etwas ausholen.
Es ist das Verdienst Immanuel Kants gezeigt zu haben, dass es im menschlichen Geist zwei Kategorien gibt, auf die der Mensch in seiner Schilderung von Welt.- und Selbstverhältnissen immer wieder zurückkommt, Kant nennt sie a priori, Hans Blumenberg denkt sie später als absolute Metaphern. Diese Kategorien sind Raum und Zeit. Alles was wir denken und der Rahmen in dem wir darüber sprechen können, ist gefasst und gesättigt durch Vorstellungen von Raum und Zeit. Auch die Ekstase denken wir in räumlichen oder zeitlichen Bezügen. Dem herkömmlichen Bild von Ekstase liegt der Raum als Bezugsrahmen zugrunde. Die Metaphorik der Ekstase ist bestimmt von den Vorstellungen eines „Anderswo“, einem „Jenseits“, einem „höheren“ Bewusstseinszustand, einem speziellen Raum oder einer besonderen Sphäre.
Im existenziellen Verständnis ist Ekstase dagegen kein Phänomen des Raumes, sondern der Zeit. Sein und Zeit heißt daher auch Martin Heideggers phänomenologische Grundlegung des existenziellen Weltverständnisses, nicht Sein und Raum. Wenn es um uns Selbst geht, führt der Raum hinaus, die Zeit hinein.
Wovon wir also sprechen müssen, wenn wir Ekstasen existenziell verstehen wollen, ist die Zeit. Ekstasen im existenziellen Sinn, sind ein Phänomen der Zeit. Ekstasen bilden Inseln im Fluss der Zeit, sie prägen unsere Erinnerung und unser Selbst. Um die volle Bedeutung der Zeit für das Mensch-Sein zu verstehen, dürfen wir die Zeit aber nicht als abstrakte physikalische Größe verstehen, als eine vom Menschen unabhängige Einheit. Wir müssen Zeit existenziell verstehen, als ein Phänomen, das unser menschliches Bewusstsein und damit unser Selbst grundlegend bestimmt. Existenziell verstanden, misst sich Zeit nicht in objektiven Einheiten, nicht in Sekunden, Stunden oder Jahren. Die Zeiteinheit, die uns aus Sicht der Existenzphilosophie bestimmt, hat Karl Jaspers als „Situation“ definiert, Heidegger als Befindlichkeit. Existenziell betrachtet ist Zeit ist nie „leer“, keine abstrakte objektive Größe, sondern immer schon lebendig erfüllte Zeit. Wir erleben sie als befindlich gestimmte Situation, deren Inhalt und Bedeutung sich aus dem Sinn ergibt, den wir dem großen Ganzen geben.
Unser Leben gleicht in temporaler Hinsicht einer russischen Puppe: Wir erleben Situationen in Situationen, die zuletzt in einem ganzheitlichen Lebensgefühl gefasst sind, einem mehr oder weniger bewussten Sinn, den wir dem Ganzen geben. Heidegger spricht vom „Verweisungszusammenhang der Bedeutsamkeiten“ der einen Sinn konstruiert, und sich aus diesem heraus versteht. Situationen müssen nicht bewusst sein, sie müssen auch nicht entschieden oder gesteuert werden. Sie sind einfach zunächst einfach „da“. Im Alltag sind wir mit ihnen vertraut, sie bestimmen unsere „Welt“ und unseren Platz darin. Wir handeln aus ihnen heraus und in sie hinein. Auch Metapositionen, die wir etabliert haben, um Situationen zu reflektieren und gegebenenfalls zu verändern, sind Situationen in Situationen.
Ausgehend von dieser Interpretation der erfüllten Zeit als befindliche Situation ergibt sich jetzt ein Weg zum Verständnis von Ekstase. Karl Jaspers hat erkannt, dass es Situationen gibt, die sich entscheidend von allen anderen unterscheiden. Er bezeichnet sie als Grenzsituationen und bestimmt sie als Situationen, die uns vor uns selbst bringen:
Situation wird zur Grenzsituation, wenn sie das Subjekt durch radikale Erschütterung seines Daseins zur Existenz erweckt. (Philosophie I, 3. Aufl. 1956, 56)
Auf Grenzsituationen reagieren wir daher sinnvoll nicht durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten. Sie werden, dem Wissen nur äußerlich kennbar, als Wirklichkeit nur für Existenz fühlbar. Grenzsituationen erfahren und Existieren ist dasselbe. (Philosophie II, 3. Aufl. 1956, 204)
Im Begriff der Grenzsituation finden wir somit eine erste Annäherung an die existenzielle Ekstase und den Brückenschlag zum eigentlichen Thema des heutigen Abends: dem Trauma. Ekstatisch sind Situationen, die mich an eine Grenze bringen, an der es mir nicht mehr möglich ist, zu fliehen oder auszuweichen. In der Grenzsituation bin ich als Ganzes gefordert. Ich muss antworten. Und ich bin dann diese Antwort. Das ist der Kern der existenziellen Ekstase. Sie bringt uns vor uns selbst und wir müssen Zeugnis ablegen. In der Grenzsituation stehen wir aus dem Alltag heraus, und wie wir mit dieser Situation umgehen, bestimmt unser Selbst. Grenzsituationen verbinden uns mit der Möglichkeit der Existenz und damit mit unserem Mensch-sein. Grenzsituationen sind somit kein nur mir zufallendes Schicksal, sondern Aufgaben, die unaufhebbar mit dem Menschsein verknüpft sind. Jaspers nennt vier Grenzsituationen, die unsere Existenz bestimmen: Der Kampf, definiert als unser stetiges Bemühen, einen Platz in dieser Welt zu behaupten; die Schuld, die damit einhergeht, weil ich mich durch das Behaupten meiner eigenen Position unweigerlich an anderen schuldig mache; das Leid, in der Erfahrung von Schmerz und schließlich der Tod, der uns ja bewusst vor Augen steht und die ultimative Sinnfrage stellt.
Grenzsituationen sind Ekstasen, weil sie allgemein menschliche Herausforderungen sind, auf die wir nur ganz persönlich, also existenziell antworten können: sie konfrontieren uns mit der Notwendigkeit des „Ek-sistierens“. Diese Erfahrungen sind schmerzhaft, wie eine Geburt, aber sie sind zugleich auch der Weg zum Licht und zur Erfahrung des Schönen.
Von hier führt unser Weg - ganz wie bei Dante Alighieri in der Göttlichen Komödie - durch die Hölle in den Himmel.
Die Hölle, das ist die unbeantwortete Grenzsituation. Diese Hölle nenne ich: Trauma. Existenzphilosophisch gesehen ist Trauma negative Ekstase. Im Trauma fallen wir aus dem Alltag heraus. Trauma zwingt uns vor uns selbst. Trauma lässt kein Ausweichen zu. Trauma fordert eine Antwort.
Trauma ist eine Grenzsituation und somit kein Sonderfall, keine Ausnahme, sondern eine Folge des Menschseins. Menschsein ist an der Basis traumatisch, weil wir ekstatische Wesen sind. Als Menschen tragen wir das Trauma potenziell in uns, weil wir Zeit sind, weil wir nie völlig in der Umwelt aufgehen; weil wir das „nicht festgestellte Tier“ sind, wie Nietzsche schreibt, weil wir Ekstatiker sind. Wir tragen einen Abgrund in uns und tun alles, um ihn nicht spüren zu müssen. Die akute Traumatisierung, von der die Psychologie spricht, ist daher eine Erfahrung, die diese Potenz aktiviert, der Anlass, der uns in den Abgrund blicken lässt. Das psychologische Trauma konfrontiert uns mit dem Abgrund des existenziellen Traumas, das immer schon da war. Nur weil wir das Trauma potenziell in uns tragen, können wir überhaupt traumatisiert werden. Was wir dann erleben, ist negative oder nihilistische Ekstase. Traumatisierung ist vernichtend und macht uns das Nichts bewusst. Traumatisierung bezeichnet einen vernichtenden Eingriff in unser Selbst, wir erleben einen Schmerz, der existenziellen Ursprungs ist. Dieser Schmerz ist das Erleben des Abgrunds, den wir in uns tragen. Wir spüren das Bewusstsein des Todes, der uns entweder vernichtet oder in eine neue Existenz überführt. Wie bei jeder Grenzsituation sind wir gezwungen auf das Trauma zu antworten, nicht nur psychologisch, sondern existenziell. Weil das akute Trauma uns in das existenzielle Trauma führt, liegt in dieser Antwort auch die Chance auf ein neues Selbst-Sein, auf tiefe Menschlichkeit.
Schilderung, wie sich diese der traumatischen Ekstase anfühlt, finden wir in vielen Selbstbekenntnissen existenzieller Philosophen. So schreibt z.B. Sören Kierkegaard in „Entweder-Oder“:
Ich liege hingestreckt, untätig; das einzige, was ich sehe, ist Leere, das einzige, wovon ich lebe, ist Leere, das einzige, worin ich mich bewege, ist Leere. Nicht einmal Schmerz leide ich. ... Ich sterbe des Todes. Und was sollte mich auch zerstreuen können: Ja, wenn ich eine Treue zu sehen bekäme, eine, die jede Prüfung bestünde, eine Begeisterung, die alles trüge, einen Glauben, der Berge versetzte; wenn ich einen Gedanken fühlte, der das Endliche und das Unendliche verbände! Der giftige Zweifel meiner Seele aber verzehrt alles.
Meine Seele ist wie das Tote Meer, über das kein Vogel fliegen kann; wenn er bis mittwegs gekommen ist, sinkt er ermattet hinab in Tod und Verderben.
Wir finden eine ähnliche Schilderung von Leere und Vernichtung aber auch an einem ganz anderen Ort. Das dao de jing ist seit Jahrhunderten Inspiration für Millionen Menschen. Aber auch diese Blüte der östlichen Weisheit gründet in der existenziellen Heimatlosigkeit:
Zwischen "Gewiß" und "Jawohl":
was ist da für ein Unterschied?
Zwischen "Gut" und "Böse":
was ist da für ein Unterschied?
Was die Menschen ehren, muß man ehren.
O Einsamkeit, wie lange dauerst Du?
Alle Menschen sind so strahlend,
als ginge es zum großen Opfer,
als stiegen sie im Frühling auf die Türme.
Nur ich bin so zögernd, mir ward noch kein Zeichen,
wie ein Säugling, der noch nicht lachen kann,
unruhig, umgetrieben als hätte ich keine Heimat.
Alle Menschen haben Überfluß;
nur ich bin wie vergessen.
Ich habe das Herz eines Toren, so wirr und dunkel.
Die Weltmenschen sind hell, ach so hell;
nur ich bin wie trübe.
Die Weltmenschen sind klug, ach so klug;
nur ich bin wie verschlossen in mir,
unruhig, ach, als wie das Meer,
wirbelnd, ach, ohne Unterlaß.
Alle Menschen haben ihre Zwecke;
nur ich bin müßig wie ein Bettler.
Ich allein bin anders als die Menschen:
Doch ich halte es wert,
Nahrung zu suchen bei der Mutter.
Die Auslegung von Trauma als Erinnerung an die Nichtigkeit unseres Daseins ist umfassend dargelegt in der Philosophie Martin Heideggers. Als Person hat Heidegger nie Zugang zu diesem tiefen Schmerz gefunden, oder aber ihn nie zugegeben. Das hat sein Leben auf zwei Wege geführt: einerseits zu einer beinahe wahnhaft zu nennenden Verstrickung in den Nationalsozialismus, andererseits zu seiner objektivierenden Beschreibung der traumatischen Verfassung des Daseins. Man könnte seine Philosophie – wie in „Sein und Zeit“ vorgestellt – auch als umfassende Dissoziation deuten, als seinen Versuch, das eigene Leid dadurch zu mildern, dass er es objektiviert. Thomas Macho hat diese Strategie in einem Interview als Leitmotiv für den Umgang mit Leid ins Spiel gebracht hat. „Objektiviere die Hölle“!
Also nochmal die Hölle. Ich habe versucht, sie als existenzielles Trauma zu fassen. Es gibt unterschiedliche Beschreibungen dieser nihilistischen Ekstase: Heidegger findet es in der Angst, Sartre in der Scham, Kierkegaard in der Leere und Jaspers in den Grenzsituationen. Angst, Scham, Leere und Leid sind negative Ekstasen, die existenzielles Trauma fühlbar machen und uns an den Abgrund des Menschseins führen. Wenn wir sie jedoch recht verstehen - und vielleicht wie Dante in Vergil auch einen kundigen Führer haben, der mit uns durch die Hölle geht - dann führen diese Ekstasen aber auch in einen Himmel. Negative Ekstasen öffnen uns für die Ekstasen des Schönen; oder wie Leonhard Cohen es unsterblich besungen hat:
There is a crack in everything, that’s how the light gets in.
Gehen wir es im Einzelnen durch. Die Angst. Vielleicht die Mutter aller traumatischen Ekstasen. Angst ist nicht Furcht. Furcht fürchtet sich vor etwas bestimmten, das sich bedrohlich nähert. Nachbars Hund zum Beispiel. Da kann man sich schon mal fürchten.
Die Angst wie Heidegger sie bestimmt meint anderes. Sie verursacht nicht Furcht und Zittern, sie nimmt einem den Sinn. Heideggers Angst meint einen Zustand, der deutlich in den Texten Kierkegaards und Lao Tses getroffen ist. In der Angst fühlen wir Bedeutungslosigkeit. Und weil uns das Leben immer alles bedeutet, offenbart die Angst das Gegenteil: das Nichts. Im wörtlichen Sinn.
Das Nichts wäre ein treffender Name für das existenzielle Trauma, bietet sich aber nicht an, weil es eben nichts ist. Trauma aber, ist Etwas. Es ist ein Nichts, das nichtet. Eine Phrase Heideggers, die Anlass gegeben hat zu viel Spott und Unverständnis. Es ist ein weiter Weg durch Heideggers Daseinsanalyse, der zuletzt verständlich macht, warum die Angst verstanden werden kann als eine Befindlichkeit der gefühlten Vernichtung. Ich kann und will diesen Weg hier nicht nachzeichnen, sondern nur diesen Punkt aufzeigen, dass es Grenzsituationen im Sinne Jaspers‘ gibt, die Heidegger als negative Ekstasen im Begriff der „Angst“ gefasst hat. Diese Situationen müssen keinen äußeren Anlass haben. Was sie verbindet, ist ein Bewusst-Werden des Traumas in der Befindlichkeit. Wo das Nichts befindlich wird, wird das Selbst bedeutungslos:
„Meine Seele ist wie das Tote Meer, über das kein Vogel fliegen kann.“
Was sich uns in der Angst zeigt, ist ein Ausblick auf das Nichts, den Tod, das nicht mehr Sein. Dieser Ausblick kann uns vernichten oder dazu führen, dass wir mehr „Da“ sind, dass wir unsere Existenz tiefer leben.
Wäre da nicht die Scham. Für viele ist sie vernichtender als die Angst. Scham kann nicht nur tief ins Trauma führen, sie verhindert vor allem, aus dieser Hölle wieder zu entkommen. Sartre hat es „den Blick der anderen“ genannt, dem ich nicht entkommen kann, den ich sogar soweit internalisieren kann, dass er mich auch noch bestimmt, wenn diese anderen gar nicht anwesend sind. Die Hölle der Scham ist teuflisch, weil sie mich von außen bestimmt, mich der Kontrolle beraubt. Der Blick der anderen, dem ich ausgesetzt bin ist wie der strafende Blick Gottes, vor dem ich mich nicht verstecken kann. Flucht ist nicht möglich. Die Hölle, das sind die anderen. Und sie sind immer da, solange ich da bin, sie lassen mich nicht sein. Mobbing in existenziellen Dimensionen. Diese traumatische Ekstase ist schwierig in etwas Positives zu überführen, denn in der Scham zeigt sich ein weiteres mit Trauma verbundenes Phänomen: die Generalisierung. Wer einmal beschämt wurde, sieht sich den Rest des Lebens dem Blick der anderen ausgesetzt. Es liegt Wahrheit in dieser Beschreibung der Ausgesetztheit, aber nicht in der Zuschreibung der damit notwendig verbundenen Beschämung. Hoffnung liegt in der Öffnung für den liebevollen Blick des anderen. Hier liegt die Chance auf Transformation auch in der Scham.
Erinnern wir uns an dieser Stelle an die Worte Jaspers‘:
Situation wird zur Grenzsituation, wenn sie das Subjekt durch radikale Erschütterung seines Daseins zur Existenz erweckt. Auf Grenzsituationen reagieren wir daher sinnvoll nicht durch Plan und Berechnung, um sie zu überwinden, sondern durch eine ganz andere Aktivität, das Werden der in uns möglichen Existenz; wir werden wir selbst, indem wir in die Grenzsituationen offenen Auges eintreten.
Auch die Scham ist eine Grenzsituation und kann eine radikale Erschütterung unseres Daseins bedeuten. Wir können darüber hinweg gehen und uns in den Alltag flüchten. Oder wir unterbrechen den Teufelskreis, indem wir zurück blicken. Was gefordert ist, ist das offene Eintreten in die Grenzsituation. Der Weg aus dem Trauma führt tiefer hinein. Auch Dante findet den Ausgang der Hölle im untersten Ring.
Im Trauma erfahren wir die Ekstase als Leid und Leere. Wenn wir aufhören, davor zu flüchten, eröffnet sich ein Weg zum tiefen Mensch-Sein.
Fassen wir zusammen: Traumatische Ekstasen werfen uns aus der Selbstverständlichkeit des alltäglichen Daseins, verhindern, dass wir auf Autopilot durch das Leben steuern. Ekstasen sind Phänomene der existenziellen Zeit, die sich leiblich einschreiben und die Möglichkeit bieten, uns zur Existenz zu erwecken. Da Trauma ein interaktives Phänomen ist, etwas das sich in einem „Zwischen“ ereignet, etwas, das wir uns nicht selbst zufügen, ist auch der Ausweg aus dem Trauma in einem „Zwischen“ gelegen, in einem existenziellen Dialog und in der Gabe. Darüber an anderer Stelle mehr, hier möchte ich noch einmal auf das Licht eingehen, das durch den Spalt des Traumas ins Dasein fällt: Das Schöne.
„Nun schaut der Geist nicht vorwärts, nicht zurück, die Gegenwart allein ist unser Glück“.
So beschreibt es Goethe im zweiten Teil des Faust. Das Trauma kann uns zu dieser Erkenntnis führen. Faust spricht diesen Satz in einem berühmten Dialog mit Helena, dem Symbol der Schönheit. Das ist kein Zufall, denn die traumatische Ekstase öffnet uns für ein anderes Phänomen der Zeit: Das Glück des Augenblicks, für das Schöne. Nicht die Schönheit im eitlen Sinn, sondern in dem Sinn, in dem wir sagen, wir haben etwas Schönes erlebt. Wenn wir Faust als Verkörperung des traumatisierten Lebens sehen, dann verkörpert Helena die Schönheit des Daseins, das uns in Momenten ekstatisch überwältigen kann. Die Öffnung für das Schöne ist das Geschenk des Traumas und kann bis zu einem gewissen Grad das Korrektiv sein für das Leid. „Vermehrt Schönes“ könnte ein Motto des positiv ekstatischen Lebens sein, wenn es nicht schon als Werbeslogan abgedroschen wäre.
Um zu dieser tiefen Würdigung des Augenblicks zu kommen, reicht es nicht, darüber nachzudenken, oder intellektuell anzuerkennen, dass das „Sinn macht“, schöne Momente zu suchen. Das sind intellektuelle Seifenblasen. Der Weg in den Himmel führt durch die Hölle. Das bedeutet: die Öffnung für die Schönheit und das Glück des Augenblicks erfahren wir durch die Begegnung mit Trauma. Erst vor dem Hintergrund und im Bewusstsein des „Nichts“, enthüllt sich die berührende Schönheit des „Etwas“. Das Schöne berührt uns dann im Innersten. Dieses Nichts darf kein intellektuelles Konstrukt sein, sondern die persönliche Erfahrung einer Grenzsituation. Nur so kommen wir zu der Einsicht Leonhard Cohens, den ich bereits zitiert habe. Das Trauma öffnet uns für das Schöne. Das ist die Chance, die im Trauma liegt. Die Öffnung für diese Erfahrung führt über das Aushalten der Angst und die Überwindung der Scham.
Die Angst führt uns die Sterblichkeit vor Augen und weckt damit auch das Bewusstsein für die hohe Bedeutung der Zeit, die uns zur Verfügung steht.
„Hier kommt keiner lebend raus“. Das kann auch ein Aufruf sein, ein Weckruf, eine Mahnung, dass alles, was wir tun oder lassen, nur von uns selbst getan werden kann und muss; dass unsere Zeit zu kostbar ist, um sie uns abnehmen zu lassen.
So entsteht aus der Angst, aus dem „Vorlaufen in den Tod“ die Empfänglichkeit für das Schöne, für den Augenblick, für die Liebe als gefühlte Freude am Dasein.
Für die Trauma erfahrenen ergibt sich daraus eine Lebensaufgabe: Die Aufgabe, diese schönen Augenblicke immer wieder aufzuspüren, ohne sich davon gefangen nehmen zu lassen. Der Augenblick, der vor dem Dunkel des Traumas das Licht des Schönen erkennen lässt, wird geschenkt, nicht erjagt.
Hartmut Rosa spricht in diesem Zusammenhang von Resonanz: ich kann sie nicht machen oder erzeugen, aber ich kann offen dafür sein und dadurch wird sie sich einstellen. Diese Offenheit für die Schönheit in der Resonanz ist gleichzeitig Bedingung und Ergebnis einer Transformation des Traumas, denn der Wert des Daseins zeigt sich erst im vollen Bewusstsein des nicht Daseins. Diese Resonanzerfahrung muss kein tägliches Erlebnis sein. Es genügt, wenn wir nur ein einziges Mal wirklich Ja sagen zu dem, was ist. Das ist der Moment der Transformation. Hören wir es von Nietzsche:
„Es ist ganz und gar nicht die erste Frage, ob wir mit uns zufrieden sind, sondern ob wir überhaupt irgend womit zufrieden sind. Gesetzt, wir sagen Ja zu einem einzigen Augenblick, so haben wir damit nicht nur zu uns selbst, sondern zu allem Dasein Ja gesagt. Denn es steht Nichts für sich, weder in uns selbst noch in den Dingen: und wenn nur ein einziges Mal unsre Seele wie eine Saite vor Glück gezittert und getönt hat, so waren alle Ewigkeiten nöthig, um dies Eine Geschehen zu bedingen – und alle Ewigkeit war in diesem einzigen Augenblick unseres Jasagens gutgeheißen, erlöst, gerechtfertigt und bejaht.“
Man kann den Faust auch als Zeugnis für genau diesen Moment lesen. Der Pakt mit dem Teufel endet, wenn wir zum Augenblick „Ja“ sagen können; wenn wir sagen können: „Verweile doch, du bist so schön!“
Scherzhaft könnte man also sagen: es gibt ein Leben vor dem Tod. Wer dieses Leben ernst nimmt und in Kontakt mit dem eigenen Trauma kommt, der sollte jeden Abend sich über den zurück liegenden Tag Rechenschaft geben und sagen können:
Heute habe ich gelebt.
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