Es ist eine große Aufgabe, mit Trauma zu leben. Es bedeutet Angst, Depression und Sinnverlust zum Wegbegleiter zu haben. Trauma ist der sprichwörtliche böse Wolf, der sich in den Winkeln der Seele versteckt und nur darauf lauert, unser Lebensglück zu zerbeißen. Ein gutes Leben ist möglich, aber es ist ein bedrohtes Leben. Mit dieser Bedrohung leben zu lernen, ist die erste Aufgabe einer Lebenslehre, die sich existenziell nennen darf.
Mit Trauma leben heißt existenziell leben. Es heißt, das „Nichts“ inmitten des Seins nicht nur intellektuell zu attestieren, sondern emotional und körperlich zu spüren. Das fühlt sich manchmal an wie das Ausgeliefertsein an einen bissigen Wolf, manchmal aber auch wie ein Dahintreiben im endlosen Meer der Traurigkeit, wo sich jeglicher Antrieb und jegliches Gefühl in der unendlichen Weite verliert und man nur noch versinken will. Der Weg vorbei an der Skylla des bösen Wolfs und der Charybdis des Trauermeeres führt tiefer hinein in das Verständnis und zuletzt die Akzeptanz des Traumas. Manche nennen diesen Weg spirituell, ich nenne ihn existenziell, weil er ohne Berufung auf höhere Wesen zwischenmenschlich bleibt und das Heil im Diesseits sucht.
Was ist Trauma? Trauma ist die paradoxe Erfahrung des Todes im Leben; die Erfahrung einer überstandenen Vernichtung. Biblisch gesprochen: Tod und Auferstehung. Was folgt, ist jedoch nicht der Himmel, sondern eine Zwischenwelt. Die Todeserfahrung lässt etwas Nekrotisches zurück, ein Stück totes Seelengewebe. Es ist möglich damit weiterzuleben, aber nicht mehr unversehrt. Philosophisch gesprochen ist Trauma die Erfahrung einer Vernichtung, die in der Gewissheit der Vereinzelung mündet. Heidegger spricht von der „Jemeinigkeit“ des menschlichen Daseins. Trauma – im existenzphilosophischen Sinn – ist der Verlust des sozialen Selbst.
Der Ausweg aus Verzweiflung und Depression beginnt daher nicht mit Selbst-Sorge. Alle Versuche, die darauf zielen, Ressourcen im Selbst zu aktivieren, fahren buchstäblich ins Leere. Auch wenn es in einem zweiten Schritt darum gehen muss, sich der eigenen Schönheit und Würde wieder bewusst zu werden, der erste Schritt ist ein anderer. Was es braucht ist eine konkrete Gegen-Erfahrung: die existenzielle Not erfährt ihre Überwindung in der existenziellen Begegnung. Im Umgang mit Trauma gilt deutlicher als anderswo: Der Mensch wird am Du zum Ich. Die Erfahrung der Liebe, der bestätigende Blick, die achtsame Berührung - sie allein lösen den traumatischen Bann. Existenzielle Traumaphilosophie fordert den Mut zur Begegnung und die geteilte Liebe zum Sein.
Das existenzielle Trauma ist als Kriterium des Menschseins in uns allen angelegt. Was traditionell „Geist“ oder „Bewusstsein“ genannt wird, beschreibt philosophisch gesehen die Tatsache, dass wir als Menschen nicht restlos in der Welt aufgehen, sondern ihr immer auch gegenüberstehen. Wir leben nicht nur, wir müssen unser Leben führen. Die Bedingung der Möglichkeit für Traumatisierung liegt in dieser existenziellen Grundverfassung des Menschseins. Nur weil wir fundamental nicht festgelegt sind, nur aufgrund dieser Weltoffenheit, ist es möglich die Richtung und den Sinn im Leben zu verlieren. Es ist wie mit dem körperlichen Gleichgewicht: auch wenn wir es zumeist nicht spüren, die aufrechtstehende Balance ist kein statischer Zustand, sondern ein ständiges Schwanken. Es kommt uns so vor, als wäre das Gleichgewicht wie von selbst da und nur durch Missgeschicke können wir es verlieren. Tatsächlich verhält es sich umgekehrt. Was im Stolpern und Stürzen auffällt, ist das Fehlen des Gleichgewichts, das wir bis dahin immer kompensiert haben. Ebenso offenbart die Erfahrung des Traumas die Leere, die wir alle ständig füllen und nach einem Trauma bewusst füllen müssen.
Zusammenfassend bedeutet das, dass Erfahrungen der Gewalt, der Ohnmacht, der Beschämung sowie alle Arten der Zurückweisung, die potenziell traumatisierend im psychologischen Sinn sind, Menschen in eine existenzielle Leere stürzen können, die immer schon da war, auch wenn sie nie in den Blick kam. Erfüllung ist immer noch möglich. Es braucht dazu den Mut zur Wahrheit und ein dafür offenes „Du“. Trauma ist nicht nur Leid, es ist auch eine Öffnung zum Licht. Das Geschenk des Traumas liegt in der Öffnung für das Wesentliche und die Liebe. Die Fähigkeit zur echten Begegnung ist das Geschenk das existenziell Traumatisierte ihren Mitmenschen machen können. Das ist die Gabe die einen neuen Sinn ermöglicht. Wegbegleiter zu sein auf dem Weg zu diesem Selbstverständnis sehe ich als zentrale Aufgabe der existenziell-philosophischen Praxis.
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