top of page

Vom Sinn der Verschwendung

Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.

Matthäus 4:4

It’s better to burn out than to fade away.

Kurt Cobain



Was lässt sich Positives zur Verschwendung sagen? Die ökologische Krise, die wir mit unserem Verbraucherdasein gerade auslösen, lässt eigentlich keinen Platz für optimistische Deutungen. Mit Blick auf die Welt des Konsums muss man zwangsläufig konstatieren: wir verschwenden uns zu Tode. Gibt es trotzdem Sinn in der Verschwendung?

Ich denke ja. Aber nur, wenn wir die Blickrichtung ändern. Ein Plädoyer für eine vergessene, aber lohnende Perspektive auf diesen vorverurteilten Begriff.

Unsere Vorstellung von Verschwendung verbindet sich scheinbar wie von selbst mit dem Begriff der Ressource. Wenn wir von Verschwendung sprechen, denken wir beinahe zwangsläufig an eine Unverhältnismäßigkeit der Mittel oder eine moralische Verurteilung der Zwecke. Wir können unsere Körper mit 300 Liter Wasser waschen, oder mit 30. In beiden Fällen sind wir nachher sauber. Der Zweck ist erreicht, aber im ersten Fall scheinen die Mittel pure Verschwendung. Und weiter: wenn wir nur 30 Liter Wasser haben, dann können wir damit entweder unser Auto waschen oder einem Durstigen zu trinken geben. In beiden Fällen ist das Wasser genutzt, aber im ersten Fall scheint es aus moralischen Gründen verschwendet. Warum „scheint“? Weil die Frage, wo die Verschwendung anfängt und aufhört nur auf den ersten Blick eine eindeutige Antwort zulässt. Auch wenn es sehr eindeutig scheint, dass ein Verschwender ist, wer die Grenzen des Notwendigen überschreitet bzw. eine höhere moralische Anforderung zugunsten einer niedrigeren aufgibt. Es bleibt die Frage: wo endet das Notwendige, wer bestimmt und wie legitimieren wir den „höheren Zweck“? Wem geben wir das letzte Wasser: Auto oder Mensch? Freund oder Feind? Familie oder Fremder? Mensch oder Tier? Ich oder Du? Was ist der „höhere Zweck“?

Seit Aristoteles stehen hier die Fragen nach dem rechten Maß und dem gerechten Zweck im Raum. Wieviel ist genug und wer darf das bestimmen? Mit dem Blick auf unsere Konsum Gier scheint es durchaus plausibel, dass es eine Grenze geben soll. Die Summe an Gütern und die Ressourcen die dafür aufgewendet werden, stehen schon lange in keinem Verhältnis mehr, und diese Entwicklung gefährdet die Zukunft aller. Hier ist die bedenkliche Seite der Verschwendung am Offensichtlichsten und wird ja auch breit diskutiert. Mit diesem Blick auf Verschwendung gilt: überall, wo begrenzte Ressourcen auf lebensnotwendige Bedürfnisse treffen, ist ein sorgloser Umgang mit diesen Gütern moralisch nicht vertretbar. Wenn das Wasser bei besonnenem Gebrauch für alle reicht, dann handelt unverantwortlich, wer mehr als den fairen Anteil entnimmt. Der Umgang mit dem was wir alle brauchen um leben zu können, muss auf Rücksicht und Voraussicht gründen. Hier finden wir keinen Sinn in der Verschwendung.

Damit könnte eigentlich alles gesagt sein: Verschwendung ist zumindest sinnlos, wenn nicht böse. Lässt sich die Verschwendung überhaupt positiv denken? Oder pointierter: ist ein Leben ohne Verschwendung lebenswert?

Um auf diese Fragen neue Antworten geben zu können, müssen wir völlig die Perspektive wechseln. Wir verlassen das Gebiet der gezüchteten Bedürfnisse samt ihrer globalen Auswirkungen und wenden uns strikt dem Einzelnen zu: Ich und Du. Ich und mein Leben. Wir sprechen auch nicht mehr von den Dingen, die sich zählen und messen lassen. Wir fragen vielmehr: wie gehen wir um mit dem Unbegrenzten? Wo sind die Bereiche, in denen es keinen Sinn macht, von Verschwendung zu reden, weil wir aus dem Vollen schöpfen können, weil wir das rechte Maß zugunsten des Überflusses verlassen? Wir finden diese Bereiche, wenn wir uns dem Wesentlichen, dem eigentlich Menschlichen zuwenden: der Liebe, der Zeit, der Freiheit.

Die Liebe. Sollen wir von der Liebe als knappe Ressource denken? Ist es notwendig, über unsere Liebe zu wachen, weil unsere Fähigkeit zu lieben begrenzt ist? Lohnt es sich, eifersüchtig das Geliebte zu binden und unsere besten Momente nur selten und nur an Auserwählte zu vergeben, um sie nicht zu „verschwenden“? Was für ein Unsinn. Liebe ist keine Währung, kein Tauschgeschäft. Wer sich hier an das rechte Maß halten will, hat etwas grundlegend missverstanden. Es muss gelten: Liebt. Liebt maßlos. Verschenkt euch. Ganz. Und dann nochmal. Auf keinem anderen Gebiet ist Pfennig - Zählerei weniger angebracht als hier. Die Liebe ist nicht der rechte Ort für wirtschaftliche Metaphern. Es gibt keine Kosten/Nutzen Rechnung. Hier wird nicht „investiert“. Wer auf diesem Gebiet angemessene Sprache sucht, muss Zuflucht in der Poesie nehmen, in der Lyrik versinken. Die Versuchung in die Sprache der Geschäftemacherei zu verfallen ist allzu mächtig. Liebe ist keine Ressource, Liebe ist ein Paradox. Schon die Vorstellung von Geben und Nehmen verfehlt die Tatsachen. Liebe gibt es nur als geteilten Zeitraum, als flüchtigen Augenblick und überschüssig vertrauende Grundhaltung, die sich weder vorschreiben noch produzieren lässt. Ich liebe. Du liebst. Entweder es ist so, oder es ist nicht so. Die alles beherrschende Zähl-Sprache hat hier viel Schaden angerichtet und Missverständnisse gezüchtet. Verschwendung basiert auf knappen Ressourcen und falschen Zwecken; beide Prämissen lassen sich auf die Liebe aber nicht anwenden. Ganz gleich wieviel Liebe wir teilen, sie wird immer mehr.

Aber die Zeit? Gibt es ein knapperes Gut, einen kostbareren Schatz, den es zu hüten gilt? Darf man die eigene Zeit verschwenden, ja: soll man es sogar?

Um hier eine neue Perspektive gewinnen zu können, müssen wir eine Unterscheidung treffen: in qualitative und quantitative Verschwendung. Im Beispiel der Körperreinigung geht es um eine fast beliebig steigerbare Menge Wasser, um ein mehr oder weniger. Wenn wir von Lebenszeit sprechen, dann ist diese Zeit unvorhersehbar, und eben auch unverlängerbar. Es geht also nicht um mehr, sondern um besser. Die Frage ist nicht nach einem wieviel, sondern nach einem wofür? Die Frage scheint: wie soll ich meine Zeit nutzen, damit sie nicht verschwendet ist? Aber gerade hier stelle ich die provokante Alternative in den Raum: ist vielleicht gerade die verschwendete Zeit das höchste Gut? Sind wir denn nicht bereits mit der Vorstellung, Zeit „nutzen“ zu müssen in die Falle des geschäftlichen Denkens getappt?

Wir sollten auch die Zeit aus dem Kosten/Nutzen Denken befreien. Dazu gibt es ein schönes Gleichnis: das Paradies. Wer stellt sich den Garten Eden schon als einen Ort vor, an dem die Menschen in der Früh aufstehen, um zu funktionieren; um Dinge zu erledigen, die anderen Zwecken dienen als sich selbst; um Pläne zu schmieden und Umsatzziele zu erreichen? Beginnt das Paradies nicht gerade dort, wo wir im Moment leben, wo wir dem was gerade „ist“ Zeit geben und aufhören einem anderen Zweck nachzujagen?

Ich bin kein Schwärmer und eines ist klar: das Paradies ist nicht von dieser Welt. Da wir keine Götter sind, müssen wir Vorkehrungen treffen, um unsere Existenz zu sichern; das ist der Unterschied zu Eden. Aber wir sollten uns ständig daran erinnern, dass diese Verrichtungen nicht der letzte Zweck sind und nur die zweitbeste Lösung. Sie sind Not-wendig, weil sie unsere Not wenden. Aber wer das Paradies auf Erden sucht, darf Zeit „verschwenden“, wie Ökonomen sagen würden, denen sich das menschenmögliche Paradies nie erschließt. In den Tag hineinleben. Muße haben. Zeit, die keinem Zweck dient, dient uns selbst. Und das ist gut. Paradies ist, wo wir die Zeit ver(sch)wenden, weil wir in das Spiel vertieft sind.

Und die Freiheit? Wie ist ihre Verbindung zur sinnvollen Verschwendung? Die Freiheit ist die Schwester der Zeit und die Mutter der Kunst. Wer liebt und sich Zeit nimmt, anstatt von ihr genommen zu werden, entdeckt vielleicht auch die Freiheit und die Schönheit in der Zerrissenheit der Welt. Freiheit heißt, frei sein für die Dinge die ich wirklich tun will. Und sie ist erst dann gelebt, wenn ich diese Dinge auch zur Welt bringe. Hier ist das Reich der Kreativität, des äußeren Ausdrucks innerer Freiheit. Auch die Kreativität lebt vom Überschuss, von der Fülle der Ideen und Varianten. Sie lebt davon, in allen Spielarten zu experimentieren. Jede/r kann jederzeit der Welt ein Glanzlicht aufsetzen. Das ist das Schöne. Ein Lied das niemand hört, ein Tanz den keiner sieht, eine Blume im Fenster: verschwendet? Mitnichten. Auch hier sollten wir uns ertappen, wenn wir in das das Denken des Begrenzten und Moralisierenden verfallen sind. Denn hier beginnt das Reich der Lebensfreude. Auch hier schöpfen wir aus dem Unbegrenzten.

Übernehmen wir also Verantwortung da, wo wir als moralische Wesen dazu aufgerufen sind. Aber vermeiden wir dieses Pflicht Denken zu generalisieren. Das Leben wird lebenswerter, wenn wir die Bereiche schützen, die an die Unendlichkeit rühren. Das klingt groß, ist im Alltag aber eher eine Sache von Kleinigkeiten. Auch wenn wir nicht der allumfassend liebende Buddha sind, nie völlig achtsam mit der Zeit sind und unsere kreativen Einfälle nur kleine Sprünge sind: es sind diese kleinen Momente die zählen. Der Sinn der Verschwendung liegt in diesen Momenten, wo es uns für einen Augenblick gelingt, uns ganz von der Liebe ergreifen lassen, wo Zeit keine Rolle spielt und wo wir den kleinen kreativen Ausfallschritt machen, den wir schon immer machen wollten. Es könnte sich also lohnen, ein kleines Abendritual einzuführen und sich am Ende jedes Tages drei Fragen zu stellen:

Gab es heute einen Moment, in dem ich voll und ganz, ohne Rückhalt geliebt habe?

Gab es heute einen Moment, an dem Zeit keine Rolle mehr gespielt hat?

Habe ich heute etwas Ungewöhnliches, Außergewöhnliches getan, mich überrascht, etwas ganz Anderes, Mutiges gewagt?

bottom of page