In den letzten beiden Artikeln zum Thema Trauma Philosophie habe ich versucht zu zeigen, wie „Trauma“ existenziell-phänomenologisch verstanden werden könnte. Diesmal geht es um die Frage, wie ein Leben mit dem so verstandenen Trauma aussehen kann, was hilfreich ist und was nicht.
Es geht - mit anderen Worten - um ein Leben mit dem „Knacks“. Diesen Ausdruck hat Roger Willemsen mit entwaffnender Offenheit in seinem gleichnamigen Buch eingeführt und zugleich versucht, ihn vom psychoanalytisch verstandenen Trauma zu unterscheiden. Insofern wäre der Knacks vielleicht auch der passendere Begriff für mein eigenes Anliegen, aber er scheint mir dann doch zu harmlos und zu wenig bekannt, um das darin zum Ausdruck kommende Phänomen zu beschreiben. Daher bleibe ich beim psychologisch vorbelasteten Begriff des (existenziellen) Traumas und der Frage, wie sich damit leben lässt.
Die erste Frage lautet: gibt es ein Entkommen aus dem Trauma? Nicht wirklich. Mit Willemsen denke ich, dass der Knacks nicht „wieder gut“ zu machen ist. Trauma ist Lebensaufgabe. Darin liegt Verzweiflung, aber auch Erleichterung. Wenn wir anerkennen, dass die Leere nicht aufgefüllt werden kann, dass das Loch bodenlos ist, können wir aufhören zu versuchen es zu stopfen, können wir aufhören, sein zu wollen was wir nie sein werden: heil. Gleichzeitig können wir beginnen die Wahrheit zu leben, die in Leonard Cohens Worten liegt: „There is a crack, a crack in everything, that's how the light gets in.“ (L. Cohen: Anthem)
Das Element der Vernichtung im Trauma ist nicht nur Abgrund, Kluft zwischen Ich und Du, sondern auch offener Zwischenraum. Es öffnet sich eine Zwischenwelt. Wem es gelingt, ein Fünkchen Lebenswille über das Trauma hinweg am Leben zu erhalten, für den entsteht eine Öffnung des Egos, ein besonderer Blick auf das Leben.
Wer das Leben existenziell erfährt, erlebt drei wesentliche Veränderungen: eine erhöhte Empfindsamkeit für das Schöne, eine sensible Berührbarkeit und die Fähigkeit zu tiefem Mitgefühl. Auch wenn diese Sensibilitäten fragile Zustände sind, immer bedroht von der vernichtenden Energie des Nihilismus, dem unheimlichen Einflüsterer „nichts zählt wirklich“, sind sie doch positive Folgen des Traumas. Eine Gemeinschaft der „Knacks-Erfahrenen“ könnte sich um diese besondere Sensibilität herum formen und einander schöne, berührende und mitfühlende Momente schenken. Um dafür überhaupt bereit zu sein ist jedoch zunächst Hilfe nötig, Hilfe beim Verständnis für das Geschehene, Hilfe bei den ersten Schritten aus der Vereinzelung, Hilfe in Form von Mut.
Trauma ist lebenslange Aufgabe. Diese Aufgabe ist alleine nicht zu bewältigen. Es liegt ein tragisches Moment für Traumatisierte in ihrer Abhängigkeit von einem verständnis- und liebevollen Gegenüber, denn nur so entkommen sie der Gravitation, die vom schwarzen Loch in ihrer Seele ausgeht. Wer mit Trauma leben will, muss es teilen. Und genau da beißt sich die Katze in den Schwanz. Trauma bedeutet den Verlust des Vertrauens in den Anderen und doch muss ich dem Anderen vertrauen, um den Verlust zu überwinden. Die Gefahr der Re-Traumatisierung ist groß.
Daraus ergeben sich mehrere Konsequenzen in Hinblick auf einen gelungenen Umgang mit Trauma. Für den Betroffenen gilt: der Versuch es allein schaffen zu wollen verlängert nur das Leid. Die Aufgabe sich anzuvertrauen erfordert eine kritische Auswahl des Partners und viel Mut.
Für alle, die sich der existenziellen Not eines anderen annehmen wollen bedarf es des gleichen Mutes, denn es gilt, sich auf einen zweifelsohne schmerzhaften Dialog einzulassen. Für den „Knacksologen“ gilt: reine Ressourcenarbeit am Gegenüber ist nicht nur zu wenig, sondern unter Umständen sogar kontraproduktiv! Die totale Ohnmacht im Trauma macht es per definitionem unmöglich, sich der eigenen Ressourcen bewusst zu sein und die Aufforderung sich darauf zu fokussieren, was „Ressource“ sein sollte, kann doppelten Schaden anrichten: es verstärkt die Gewissheit der Ohnmacht („Kein Durchbruch zur Lebensfreude möglich.“ R. Willemsen) und – weit schlimmer – es vergrößert den Abstand zwischen den Dialogpartnern, weil man sich unberührbar macht. Der Knacks ist kein Coaching Thema. Heilsam ist Berührbarkeit.
Der amerikanische Psychoanalytiker R.D. Stolorow ist einer der wenigen, die von psychotherapeutischer Seite die Notwendigkeit der persönlichen Involviertheit erkannt haben. Er hat für das „Sein zu Zweit“, für das gemeinsame Ausharren im Trauma einen einprägsamen Ausdruck gefunden: „Brothers in Darkness“. (R.D. Stolorow: Trauma and Human Existence)
Eindrücklicher, wenn auch schwerer verständlich, kommt ihm von existenzphilosophischer Seite Lévinas entgegen, der fordert: „Ausgesetztheit an der Stelle genau, an der das Trauma sich ereignet“.
Die Verantwortung für die anderen bedeutet - ... – nicht die Enthüllung einer Gegebenheit und seine Aufnahme oder seine Wahrnehmung, sondern meine Ausgesetztheit den Anderen gegenüber, die jeder Entscheidung vorausgeht. Beanspruchung des Selben durch den Anderen mitten in mir, extremer Druck des Gebotes, das durch den anderen in mir auf mich einwirkt, traumatischer Einfluss des Anderen auf den Selben, ... Durch diese Alteration beseelt die Seele das Subjekt. Sie ist das eigentliche Pneuma der Psyche. (E. Lévinas. Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht)
Bruder und Schwester zu sein, in einer gefühlten starken Verbindung, ist der Anfang des Weges aus der Finsternis. Nur das. Wer das Existenzielle erfahren hat, für den „funktioniert“ der Hinweis auf Ressourcen nicht, weil das Loch bodenlos ist. Was wirklich hilft, ist der lange Arm der Liebe, die Gabe der Nähe, die in der Dunkelheit gereicht wird. Das ist der existenzielle Mut, dessen es bedarf. Mut von beiden Seiten. Der Dialog im Dunkeln gelingt nur, wenn das Moment der Vernichtung geteilt wird und beide Partner in der Lage ist, sich von Licht und Dunkel berühren zu lassen. Diese Erfahrung löst den Bann. Das Leben macht einen Sprung. Der Weg beginnt mit Verständnis und Anerkennung für die eigene Situation und führt über das Moment der Begegnung und Berührung zum letzten Schritt, die eigentlich existenziell posttraumatischen Kompetenz:
„Die Fähigkeit, eine Geschichte rund um eine Leerstelle zu bauen“.
(Roger Willemsen)
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