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Wovon ich spreche, wenn ich von Krise spreche



Die „Krise“ ist in aller Munde. Oft werde ich gefragt, was eigentlich die Philosophie zum richtigen Umgang mit der Krise sagt. Da bin ich erstmal sprachlos. Was ich dazu zu sagen hätte, klingt dramatischer, als es die Frage nach dem philosophischen Krisenmanagement erwarten lässt. Ich müsste zunächst sagen, dass ich den Begriff der Krise nur existenziell interpretieren kann, also nur dort anwende, wo der/die Einzelne persönlich und umfassend getroffen ist. Ich müsste weiters sagen, dass der Begriff der „Krise“, ähnlich wie die der Begriff der Idee, eine ungeheure Abwertung erfahren hat und im posttherapeutischen Kontext eher als eine Art „Störung“ verstanden wird. Das geht vorbei, da kann man daran arbeiten. Kann man. Soll man. Als Coach und Lebensberater würde ich genau das tun. Als Philosoph bestehe ich auf der Würde des Begriffs. Wer je eine Krise durchleben musste, die diesen Namen verdient, weiß um das Unheimliche und das Bodenlose dieser Erfahrung. Daher, auch wenn es dem aktuellen Zug zur Lösungs- und Ressourcenorientierung entgegenläuft und sich verdächtig nach persönlichen Problemen anhört, hier eine Verteidigung der Krise als existenzielle Erfahrung (Heidegger), als Grenzsituation (Jaspers) und als Das-wird-nicht-mehr-gut „Knacks“ (Willemsen). Alles andere sind Probleme, Aufgaben, Hindernisse, Störungen oder Herausforderungen und Gegenstand für Beratung oder Coaching. Die Krise ist eine Singularität. In-der-Krise-sein bedeutet eben das Versagen der Möglichkeiten angesichts der Wirklichkeiten.

Als Philosoph bin ich bestrebt, das Allgemeine im Besonderen zu sehen, Überblick zu gewinnen, Zusammenhänge zu erkennen, wo andere Zufälle sehen. Als praktischer Philosoph stelle ich mir zusätzlich die Aufgabe, diese Erkenntnisse unmittelbar praktisch hilfreich zu machen. So muss die existenzialphilosophische Frage nach dem „Sinn von Sein“ für mich direkt münden in eine Antwort auf die Frage: „wofür stehe ich heute auf?“ Sonst ist sie vielleicht theoretisch spannend, aber praktisch wertlos.

In meinen Kursen zur praktischen Philosophie erzähle ich gerne die Anekdote vom Fallschirmspringer, der im dichten Nebel die Orientierung verliert und schließlich in der Krone eines Baumes hängen bleibt. Nach einiger Zeit sieht er unter sich einen Spaziergänger und ruft ihn an:

„Können Sie mir sagen wo ich hier bin?“

Der Mann antwortet: „Sie hängen an der Spitze eines Baumes“.

Darauf der Fallschirmspringer: „Sie sind Philosoph, oder?“

„Ja, warum?“

„Weil, was sie sagen ist absolut richtig, aber völlig nutzlos.“

Die Anekdote persifliert eine landläufige Vorstellung von Philosophie. Aber praktische Philosophie ist mehr und muss mehr sein als die Beschreibung des Augenscheinlichen, mehr als Wahrheit im Sinne von Offensichtlichkeit. Als praktischer Philosoph muss ich der Springer sein, nicht der Spaziergänger. Philosophisch leben muss heißen, das Ungewisse zu wagen, nicht das Offensichtliche zu kommentieren. Nicht umsonst ist der „Sprung“ eine entscheidende Kategorie in der Existenzphilosophie Sören Kierkegaards.

Aber an wen wenden wir uns, wenn wir die Nebel lichten wollen, unseren Standort bestimmen, wenn wir wissen wollen, wo wir stehen oder wo wir hängen geblieben sind? Die Philosophie fragt nach der „Stellung des Menschen im Kosmos“, im Alltag fragen wir wohl eher nach unserer Bestimmung, der Aufgabe die wir erfüllen sollen. Von beiden Seiten nähern wir uns damit der zentralen philosophischen Frage im Zusammenhang mit Krisen: Wo befinde ich mich?

Warum ist das philosophisch relevant und was hat das mit Krisen zu tun?

Zum ersten, weil sich diese Frage an den ganzen Menschen wendet und weil sie so groß ist, dass wir uns gerne davor drücken. Wer wacht denn schon morgens auf und fragt sich: wo bin ich? Wenn das passiert, ist doch schon etwas schiefgelaufen. Ist philosophisches Denken also ein Bewusstmachen im Schiefgelaufenen? Ich denke ja. Die kurze verwirrende Orientierungslosigkeit, die beim Erwachen entstehen kann, ist als prinzipielle Orientierungslosigkeit das Grundgefühl jeder echten Philosophie. Das ist der Grund, warum das Staunen als Ursprung der Philosophie gilt. Wir wissen nicht wo wir sind. Der Blick aufs Ganze bleibt uns verwehrt. Existieren bedeutet raten, tasten, suchen, hoffen, scheitern und weitermachen. Das Leben ist ein Experiment, ein Wagnis, ein Sprung in den Nebel. Aber wenn das so ist, warum hat diese prekäre Situation so wenig Einfluss auf unser tägliches Leben? Warum lieber Staubsaugen, als sich mit unseren Nächsten über Orientierung in der Liebe und im Leben unterhalten?

Das Erstaunliche daran, dass genau das nicht passiert, hat Heidegger ausführlich zum Thema seiner Philosophie gemacht: Warum geben wir uns einander nicht ständig als Suchende, Tastende und im Eigentlichen Blinde zu erkennen? Warum scheinen alle genau zu wissen, wer sie sind und was sie tun? Ist nicht gerade diese dauernde Nebensächlichkeit des Wesentlichen das eigentliche philosophische Problem? Wie kommt das? Heidegger sagt: weil wir Angst vor den Antworten haben, genauer: vor den fehlenden Antworten, davor, mit unserer ganzen Existenz antworten zu müssen.

Das Gefühl, dass mit mir oder der Welt etwas nicht stimmt, ist der tiefe emotionale Grund, warum man Philosoph wird. Wenn man beginnt dieses Gefühl ernst zu nehmen, kann sich etwas ereignen, was Nietzsche als „große Loslösung“ beschrieben hat. Der Blick kehrt sich um, und man beginnt zu ahnen, dass die Ortlosigkeit Wahrheit ist und die Sicherheit Täuschung: Eine Flucht vor der Erkenntnis, dass wir nicht erkennen können.

Als Philosoph sehe ich daher nicht die Lüge als größten Feind der Wahrheit, sondern die Bequemlichkeit und den Alltag. Der Alltag befreit uns von der Frage nach unserem Ort. Wo diese Frage doch durchbricht, führt sie unweigerlich in den Nebel, und damit entweder zur Philosophie oder zum Therapeuten.

Also: was bedeutet dieser Befund für das Verständnis von Krise? Krise ist, wenn der Alltag nicht mehr der Ort ist, an dem wir uns befinden. Die Routine verlässt uns und macht Platz für die Orientierungslosigkeit, das Nichts, den „Unheimlichsten aller Gäste“ (Nietzsche). Wie die Zeit nützen; wie mit sich selbst umgehen? Auf einmal stellen sich philosophische Fragen, die bisher immer schon beantwortet waren, bevor sie sich stellen konnten. Bisher hieß es: steh auf, mach Frühstück, zieh dich an, geh arbeiten, essen, schlafen. Nirgends Platz für die Frage: wo bin ich hier überhaupt? Überall nur die Frage: wie soll ich das alles schaffen? Daher auch der Rat den man jetzt überall liest, um „die Krise zu meistern“. Fragen sie sich einfach weiter: wie soll ich das schaffen?

Nur: solange „mehr desselben“ (Watzlawick) reicht, damit es weitergeht, sind wir noch lange nicht in der Krise. In der Krise von der ich hier sprechen will, sind wir auf uns selbst zurück geworfen. Das ist mehr als störend. Die Krise im existenziellen Sinn, die sich einstellen kann, wenn der Lärm der Welt verstummt, das Hamsterrad zum Stilstand kommt, der Autopilot des Lebens sich abschaltet, diese Krise gefährdet das Innerste und Äußerste, sonst ist es keine Krise, sondern eben nur eine Störung. Qualtinger würde sagen: Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst.

Als Philosoph sage ich: Die Krise ist nicht notwendig eine Störung. In der Krise sein bedeutet seit Hippokrates, an dem Punkt angelangt sein, an dem sich entscheidet ob ich wachse oder scheitere. Probleme, Aufgaben, Hindernisse und Glaubenssätze; das alles ist veränderlich. Die echte Krise aber geht tiefer als jedes Coaching. Wer in der Krise steckt verträgt keinen Trost, keinen Ratschlag und keine Lösung. In der Krise sein bedeutet, dass mein Lebenswille einen letzten Halt braucht, dass es um Alles oder Nichts geht und wir einen Bereich betreten, wo die Vernunft wenig Sagen hat. Ich behaupte: hier endet die Philosophie nicht, hier beginnt sie. Der Blick in das Nichts bringt uns vor uns selbst. Erst dann entscheidet sich, wer wir sind. Wer diesen existenziellen Zweifel kennt, weiß wovon er redet, wenn er von Mut redet. „Erkenne dich selbst“, ist dann keine intellektuelle Gedankenspielerei, sondern eine Wahl die man trifft und die uns zu dem macht was wir sind.

Die Krise stellt uns in Frage. Sie fragt: Wofür leben? Die Antwort kann kein Wegweiser, keine theoretische Philosophie sein, sondern die Entscheidungen die wir treffen. Daher können wir uns in Krisen auch nicht an Theorien orientieren, sondern nur am Menschen. Frankl wird seine Krise im Konzentrationslager der Nazis in einem Satz zusammenfassen: Trotzdem ja zum Leben sagen. Wenn ich also von Krise spreche, dann möchte ich das in diesem drastischen Sinn verstanden wissen. Alles andere sind Probleme. Die kann man lösen.

Die Krise greift tief. Gerade deswegen ist sie die Chance zu einem Leben das auf tiefer Einsicht gründet. Aber damit nicht genug: Die Erfahrung der Fragilität unserer Existenz ist auch die Basis für ein weiteres wundervolles Geschenk: in ihr liegt auch die Chance für eine Öffnung für Liebe in ihrem tiefsten Sinn.

Und damit sind wir beim Thema: wie komme ich durch die Krise? Der erste Schritt ist bereits getan, wenn ich einsehe, dass die Krise mir den Boden unter den Füßen entzieht. Da gibt es kein Wehren. Wenn der Geliebte stirbt, ist der Tod stärker als jede Arznei. Wer mit dieser Machtlosigkeit kämpfen will, verliert nur noch schneller den Mut. Akzeptanz ist das Erste, das Letzte und das Entscheidende. Niemand kommt unversehrt durch das Leben. Marc Aurel verlor 12 seiner 13 Kinder. Seine eigene Frau versuchte ihn ermorden zu lassen. Er blieb Stoiker. Er akzeptierte sein Schicksal, verfiel weder in Depression, noch rächte er sich an der Frau. Das nenne ich praktische Philosophie.

Ich hoffe es ist bis hierher deutlich geworden, dass ich den Begriff Krise ausschließlich für diese erschütternden Erfahrungen reserviere, und daher die Hilfe der Philosophie auch nur auf diese Grenzsituationen verwende. Zusätzlich zur Akzeptanz des Unabänderlichen habe ich bei sehr geschätzten Kollegen noch zwei Prinzipien gefunden, die im Kampf um Sein oder Nicht Sein das Zünglein an der Waage sein könnten.

In einem Interview für das Philosophie Magazin zum Thema Umgang mit der Krise wurden Roger Willemsen und Thomas Macho befragt. Bezeichnenderweise hatten beide eine prägnante Antwort parat, die sie durch persönliche Krisen getragen hatte, und beide – obwohl herausragende Denker – gaben zu, diese Direktiven nicht selbst entwickelt, sondern im entscheidenden Moment geschenkt bekommen zu haben. Womit indirekt eine weitere Krisenmedizin genannt ist: Bleib im Dialog mit deinen Nächsten, die dir gut wollen und die sich nicht scheuen von der „Parrhesia“ Gebrauch zu machen, also von dem Recht, dir ungeschminkt die Wahrheit zu sagen, auch wenn du sie nicht hören willst.

Was also hat diesen beiden durch die Krise geholfen. Willemsen zitiert: „Objektiviere die Hölle!“ Was soll das heißen? Es bedeutet, dass wir aus der Vereinzelung, in die uns die Krise wirft, heraustreten sollen. So wie es mir geht, geht es auch den anderen. Beobachte die Hölle und sie hat keine Macht mehr über dich. Teile deine Beobachtungen, schematisiere sie, klassifiziere sie, entwirf deine eigene „Göttliche Komödie“. Das ist es, was Dante, Camus, Kierkegaard und viele andere gemacht haben und was wir heute in stark verdünnter Form in den sozialen Medien lesen: Selbsthilfe durch Veröffentlichung.

Und Macho? Sein Heilmittel wirkt in die andere Richtung. Es lautet: „Sei philanthropisch!“ Auch hinter dieser kryptischen Formulierung steckt eine existenzielle Weisheit. Aus der Krise heraus führt nicht die Zuwendung zur eigenen Wunde, im Gegenteil: wer ständig in der Wunde rührt, verhindert die Heilung. In der Aufforderung zum Philanthropismus steckt die Erfahrung, dass Selbstheilung passiert, wenn wir den Blick weg von uns selbst auf das Leid der anderen richten. Alle echte Solidarität, alle tief gefühlte und gelebte Liebe hat hier ihren Ursprung und wirkt stärker als jede philosophische Theorie.

Das also würde ich sagen, wenn ich gefragt würde, was ich als Philosoph zur Krise sage: Lerne das Unausweichliche zu akzeptieren. Objektiviere die Hölle. Sei philanthropisch. Praktiziere Parrhesia.

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