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Existenziell betrachtet: Das Schöne

Death is the mother of beauty.

Wallace Stevens.


Das Schöne. Verwechseln wir es nicht mit dem Attraktiven, dem Glänzenden, dem Hübschen, auch nicht mit dem Angenehmen oder Lustvollen. Das Schöne ist dem Sein-Lassen näher als dem Haben-Wollen; wie die Lotosblüte zieht es die Kraft seiner lichten Erscheinung aus der dunklen Tiefe darunter.


Das Schöne rührt uns, es berührt uns. Diese Rührung ist nicht immer gleich, und nicht für alle gleich. Das Schöne rührt uns besonders in existenziellen Situationen und es berührt Menschen mit existenziellen Erfahrungen. Aber was bedeutet „existenziell“?


Existenziell sind der Tod und die Schönheit, verstanden als Trauma und Ekstase. Trauma ist eine radikale Differenzerfahrung im Dasein. Trauma bedeutet einen tiefgreifenden Welt- und Selbstverlust. Vor dem Trauma sind wir nahtlos in die Welt eingewoben, danach erfahren wir uns getrennt und vereinzelt. Die begleitenden Gefühle dieser Erfahrung sind Trauer, Depression und Angst. Sie zu bewältigen, ist Aufgabe psychotherapeutischer Behandlung. Die Beantwortung der Frage jedoch: was ist da mit mir als Mensch geschehen, ist Aufgabe der Leib- und Lebensphilosophie, der Existenzphilosophie. Gleiches gilt für die Ekstase als Moment der Überwindung dieser Vereinzelung. Das ekstatische Moment ist existenziell, weil in ihm die Erfahrung der Verschmelzung, des Glücks und der Gabe liegt.


Der Tod ist die Mutter der Schönheit, das Trauma ist der Vater der Ekstase. Trauma ist die entwurzelnde Erfahrung des Todes mitten im Leben, verstanden als Vernichtung eines Teils meines Selbst. Trauma macht Etwas zu Nichts, erzeugt eine Leere, einen Abgrund der Seele. Das Selbst-verständliche ist dahin, der Autopilot des Lebens funktioniert nicht mehr, die Frage nach dem Sinn des Ganzen stellt sich ernsthaft und zwingend. Darin liegt Verzweiflung und Trauer. Zugleich aber auch die Öffnung für die Erfahrung des Schönen.


Existenziell betrachtet liegt im Trauma die Ursache für die Ansprechbarkeit durch das Schöne, für die Erfahrung der Ekstase. Die Schönheit der Kirschblüte berührt uns wegen ihrer Vergänglichkeit, ihrer fragilen und strahlenden Existenz zwischen zwei Nichts: einem Noch-nicht und einem Nicht-mehr. „Eine fragile und strahlende Existenz zwischen zwei Nichts“ ist aber zugleich der Kern des existenziellen Selbstverständnisses. Im blühenden Baum erkennt der Existenzialist sich selbst. Das ist der ekstatische Moment.


Was also, ist schön?

Es ist die Gabe der Liebe, die rückhaltlose Hingabe mit der wir uns einander schenken können. Es sind die Sinneseindrücke der Natur, die sich mächtig, farbenfroh, würdevoll oder in absoluter Stille offenbart. Es ist der Mut Einzelner, die es wagen, sich zu zeigen wie sie sind. Das ist schön. Das Schöne ist das strahlende, fragile Sein vor dem Abgrund des Nichts. Existenziell betrachtet.

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